Verwaltungsrechtsprechung in Braunschweig
"Man schaffe Gerichte des öffentlichen Rechts". Als Otto Bahr im Jahre 1864 diese Forderung aufstellte, gab es im damaligen Herzogtum Baden bereits den "Badischen Gerichtshof". Im ehemaligen Herzogtum Braunschweig wurde zu dieser Zeit noch die Judikatur der Zivilgerichte im Verwaltungsrechtsschutz gepflegt. 1876 erschien dann auch hier schon einmal das zukünftige Rechtsschutzmodell am Horizont. Die Verwaltung machte zunehmend geltend, ihre angegriffenen Verfügungen beruhten auf Normen des öffentlichen Rechts, so dass eine Überprüfungsbefugnis durch die Zivil-Justiz ausscheide. Den Anstoß für den Übergang zum primär verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Braunschweig gab 1888 die Entwicklung in Anhalt, wo einige Jahre zuvor Verwaltungsgerichte eingerichtet worden waren. Allerdings wurde die Neugestaltung des Verwaltungsgerichtsschutzes damals in der Landespolitik eher nebenbei erledigt. Bis zur Schlussabstimmung im Braunschweigischen Landtag dauerte es noch mehrere Jahre. Hiernach begann die Staatsregierung mit den Vorarbeiten für einen Gesetzentwurf, wobei die Gesetze der Nachbarländer Preußen und Anhalt Pate gestanden haben. Ferner wurden entsprechende Bestimmungen der süddeutschen Länder und sogar Österreichs herangezogen. Am 5.5.1895 wurde das "Braunschweigische Gesetz betreffend die Verwaltungsrechtspflege" verabschiedet. Unter der vom Rat des Norddeutschen Bundes begründeten Regentschaft des Prinzen Albrecht von Preußen nahm der Verwaltungsgerichtshof sodann am 1.4.1896 seine Tätigkeit auf. In der Braunschweiger Landeszeitung (Abendausgabe) erschien dazu folgende Notiz:
"Der Verwaltungsgerichtshof, welcher heute in Wirksamkeit getreten ist, setzt sich wie folgt zusammen: Geheimer Finanzrat Dr. jur. Trieps hier (unter Verleihung des Titels "Präsident") Vorsitzender, Geheimer Finanzrat Lüderßen Stellvertreter des Vorsitzenden,. Oberlandesgerichtsräte Ernesti und Herzog und Kreisdirektor Langerfeldt, hier als Mitglieder, Oberlandesgerichtsräte Dr. jur. Wolf und Culemann, Kreisdirektor Krüger zu Gandersheim und Regierungsrat Radkau, hier als stellvertretende Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes, Gerichtsschreiber-Gehilfe Perl, Gerichtsschreiber bei demselben. Mit der Errichtung dieses Verwaltungsgerichtshofes erhält auch im ehemaligen Land Braunschweig der Bürger die Möglichkeit, gegen bestimmte, im Verwaltungsrechtspflegegesetz bezeichnete Verfügungen der Verwaltungsbehörden verwaltungsgerichtlichen Schutz in Anspruch zu nehmen."
Der Braunschweiger Verwaltungsgerichtshof war einzige (erste und letzte) Instanz. Lange Zeit hindurch blieb das Herzogtum und später der Freistaat Braunschweig mit seiner Verbindung von Verwaltungsgerichtshof und Oberlandesgericht das Land, das einen ungewöhnlich vollständigen Rechtsschutz des einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt gewährte. Das Braunschweigische Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege von 1895 war, kaum abgeändert, noch bis 1948 Grundlage verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung.
Der Verwaltungsgerichtshof hatte ursprünglich seine Diensträume in der Turnierstraße 7, einem alten Braunschweiger Bürgerhaus aus dem 14. Jahrhundert, das zuvor die Kreisdirektion beherbergt hatte. Er nahm dort auch am 1.4.1896 seine Arbeit auf. Einer der ersten jetzt im Staatsarchiv befindlichen Terminpläne enthielt Rechtsstreitigkeiten, die offenbar schon immer von großer Bedeutung waren. Es ging um die Erteilung von Schankwirtschaftskonzessionen, um das Verbot der Vorführung von "kinematographischen Dramen" und um die Gültigkeit von Gemeindevorsteherwahlen. Neben den Bereichen, die der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zuzuordnen sind, hatte der Braunschweigische Verwaltungsgerichtshof ursprünglich auch Zuständigkeiten auf dem Gebiete des Sozialversicherungsrechts und des gesamten Steuerrechts.
Der Braunschweigische Verwaltungsgerichtshof tagte in der Besetzung von fünf Richtern. Von diesen fünf Richtern bzw. ihren Stellvertretern sollten ursprünglich nur der Präsident und der Vorsitzende hauptamtlich tätig sein. Dieses erwies sich jedoch schon bald wegen des Geschäftsumfange s als undurchführbar, so dass schon 1898 eine zweite hauptamtliche Richterstelle durch Gesetz geschaffen wurde, deren Inhaber zunächst den Titel Oberlandesgerichtsrat und später Oberverwaltungsgerichtsrat führte. Von den übrigen drei Mitgliedern stammten einer aus dem Kreise der Oberlandesgerichtsräte des Oberlandesgerichts Braunschweig und zwei aus dem Kreise der höheren Verwaltungsbeamten im Land. Bis auf die beiden Letztgenannten dürften demnach alle Richter die volle Unabhängigkeit im heutigen Sinne besessen haben. Auf die Beteiligung von Laien bei der Rechtsprechung hatte man sowohl im Anfang als auch nach dem Jahre 1919 verzichtet, da sich der Verwaltungsgerichtshof mehr als revisionsähnliche Instanz mit eingeschränkter Verpflichtung zum Erforschen des Sachverhalts verstand.
In den ersten 30 Jahren seines Bestehens erwarb sich der Braunschweigische Verwaltungsgerichtshof, von dessen Mitgliedern einige später eine bedeutende Stellung der Staatsverwaltung und in der ordentlichen Gerichtsbarkeit bekleidet haben, mit seinen Entscheidungen beachtliches Ansehen. Beispielsweise hielt er bereits damals die noch nach dem Zweiten Weltkrieg umstritten gewesene Klage des Nachbarn im Baurecht in ständiger Rechtsprechung für zulässig. Während der Weimarer Republik gelang es, das Ansehen des Gerichtshofes zu festigen und zu fördern.
Einschneidende Veränderungen für die Tätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes brachte die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit sich. Drei bewährte Mitglieder mussten auf Grund der Nürnberger Gesetze ihr Amt zur Verfügung stellen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde schrittweise abgebaut. Durch zwei "Führererlasse" wurden 1939 Zuständigkeiten der Verwaltungsgerichte auf die Verwaltungsbehörden übertragen. Nur die Beschwerdebehörde konnte statt des Beschwerdeweges den Verwaltungsrechtsweg zulassen. Diese Entscheidung wiederum unterlag keiner gerichtlichen Kontrolle. Schon ab 1938 wurde, sobald eine Sache "politisch" wurde, jede gerichtliche Kontrolle ausgeschaltet. Seitens des Ministerpräsidenten wurde in die Rechtspflege dadurch weiter eingegriffen, dass er bestimmte, welche Beisitzer beizuziehen waren. Da das Braunschweigische Verwaltungsrechtspflegegesetz auch gegen polizeiliche Verfügungen jeder Art die Klagemöglichkeit eröffnete, tauchten offenbar im Jahr 1940 im Reichsinnenministerium Befürchtungen auf, dass über diese Bestimmung auch Verfügungen der Geheimen Staatspolizei zum Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Verfahren gemacht werden könnten. Von einer Gesetzesänderung sah man allerdings ab und sprach in einem Schreiben vom 28.1.1941 die Hoffnung aus, dass der Verwaltungsgerichtshof "bei einer nationalsozialistischem Rechtsdenken gemäßen Rechtsprechung auch ohne Gesetz- oder Verordnungsänderung zu dem Ergebnis kommen müsse, dass eine von einer der örtlichen Behörden des Polizei- und Sicherheitsdienstes getroffene Verfügung in einer Angelegenheit der Geheimen Staatspolizei nicht der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung unterliege". Leider ließ sich nicht feststellen, ob es jemals zu einer solchen Klage gekommen ist.
Als bei der Zerstörung der Stadt Braunschweig in der Nacht vom 14. zum 15.10.1944 auch das Dienstgebäude neben dem Landtag in Flammen aufging, waren fast alle Akten und die wertvolle Bibliothek verloren. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kam dann mit dem Zusammenbruch im Jahre 1945 zum Stillstand.
Es dauerte bis zum 23.10.1947, ehe die britische Militärregierung gemäß "Verordnung des Gebietsbeauftragten Nr. 2 betr. Verwaltungsgericht Braunschweig" die Genehmigung zur Wiedereröffnung gab. Der damalige Präsident des Verwaltungsgerichtshofes meldete Folgendes nach Hannover:
"Das Verwaltungsgericht, bestehend aus mir selbst, einem Oberverwaltungsgerichtsrat, einem Regierungsdirektor, einem Schreibfräulein sowie einer Putzfrau hat den Dienstbetrieb aufgenommen."
Die Braunschweiger Zeitung berichtete am 6.12.1947 von dem Ereignis der Wiedergründung des Verwaltungsgerichtshofes und führte aus, dass nunmehr wieder das Bewusstsein der Bevölkerung geweckt werden solle, nicht willenloses Werkzeug der Bürokratie zu sein, sondern sich gegen ihre Entscheidungen mit gesetzlichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Es sei geboten, sich gegen das Gespenst des Untertans und des Obrigkeitsstaates aufzulehnen.
Seine Eigenständigkeit als oberstes Verwaltungsgericht für den Bereich des ehemaligen Landes Braunschweig konnte der Verwaltungsgerichtshof aber nur noch kurze Zeit behaupten, da im Jahre 1948 durch die Verordnungen Nr. 141 und Nr. 165 der Militärregierung eine umfassende Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeleitet wurde. Aus dem Verwaltungsgerichtshof entstand ein erstinstanzliches Verwaltungsgericht des Landes Niedersachsen, das allerdings noch bis zum 30.4.1949 in der alten Besetzung tagte. Seit dem Jahre 1949 wird die Tradition des Braunschweigischen Verwaltungsgerichtshofes vom Verwaltungsgericht Braunschweig fortgeführt. Zu diesem Gericht gehörten ursprünglich außer den drei Braunschweiger Kammern noch drei auswärtige Kammern mit dem Sitz in Lüneburg.
1956 wurde ohne großes Aufheben das Dienstgebäude An der Katharinenkirche 11 bezogen. In Braunschweig bestanden bis 1980 vier Kammern. Die auswärtigen Kammern in Lüneburg wurden kurze Zeit darauf dem Verwaltungsgericht in Stade zugeordnet und bilden heute ein eigenständiges Verwaltungsgericht. Im Zuge der Gerichtsbezirksreform wurde das Verwaltungsgericht in Braunschweig auch für den Bereich Gifhorn/Wolfsburg sowie für den südniedersächsischen Raum mit den Landkreisen Göttingen, Osterode und Northeim zuständig. Hier gibt es seit 1993 das selbstständige Verwaltungsgericht Göttingen.
Etwa zeitgleich mit dem 100 jährigen Bestehen der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Braunschweig konnte das Gericht nach umfangreichen Renovierungsarbeiten am 07.03.1997 das neue Dienstgebäude Am Wendentor 7 (heutige Anschrift Wilhelmstraße 55) beziehen.
Der unter Denkmalschutz stehende Gebäudekomplex wurde 1764 als "Spital für arme Braunschweigerinnen und Braunschweiger" errichtet. Von 1902 bis 1995 war hier das Amtsgericht untergebracht.
Autor: Christian Büschen,
Präsident des Verwaltungsgerichts Braunschweig a. D.