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Stadt Salzgitter durfte NPD-Kundgebung nicht verbieten

Die NPD darf die von ihr angekündigte Kundgebung am 8. Januar auf dem Rathausvorplatz in Salzgitter-Lebenstedt mit dem Thema „Wir wollen nicht Zahlmeister Europas sein – Raus aus dem Euro“ durchführen. Das vollständige Verbot der Versammlung durch die Stadt Salzgitter verstößt gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und ist rechtswidrig. Dies hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts heute Mittag in einem Eilverfahren entschieden.

Mit Faxschreiben vom 2. Januar 2013 hatte ein Vertreter der NPD eine Kundgebung am 8. Januar in der Zeit von 10 bis 13 Uhr auf dem Rathausvorplatz angemeldet. Die Stadt Salzgitter untersagte die Veranstaltung mit Bescheid vom 2. Januar 2013. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, es bestehe die Gefahr der Begehung von Straftaten durch die NPD. Außerdem werde mit hoher Wahrscheinlichkeit die öffentliche Ordnung als Gesamtheit der herrschenden sozialen und ethischen Auffassungen gefährdet, weil kollektive Meinungsäußerungen rechtsextremistischer Teilnehmer zu erwarten seien. Salzgitter weise einen hohen Ausländeranteil auf; gerade auch dieser Teil der Bevölkerung werde gegen die Versammlung demonstrieren oder sogar aktiv gegen sie vorgehen. Gegen die Entscheidung der Stadt hat die NPD am Freitagnachmittag einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht gestellt und sich dazu auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen. Diesem Antrag hat das Gericht stattgegeben.

Die Richterinnen und Richter weisen in der Entscheidung auf die besondere Bedeutung des durch Art. 8 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland geschützten Versammlungsrechts hin. Danach darf eine Versammlung nur dann verboten werden, wenn sie zu einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führt. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung muss eine solche Gefährdung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Für diese Prognose sind nachweisbare Tatsachen erforderlich; bloße Vermutungen reichen nicht aus. Nach diesen Grundsätzen sei das Verbot der Stadt rechtswidrig. Nach den vorliegenden Erkenntnissen könne nicht mit der für ein Demonstrationsverbot notwendigen hohen Wahrscheinlichkeit eine drohende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit festgestellt werden. Ein auf Tatsachen gestützter konkreter Verdacht der Begehung von Straftaten durch die NPD bestehe nicht. Die Stadt habe weder konkrete Vorkommnisse aus der Vergangenheit benannt, noch durch polizeiliche Erkenntnisse belegt, dass es zu Rechtsverstößen bei der Versammlung kommen könne. Für den Fall, dass es durch strafbare Äußerungen zu einem Grundrechtsmissbrauch komme, sei die Polizei gehalten und in der Lage, die Fortführung der Versammlung vor Ort zu unterbinden. Soweit die Stadt Salzgitter auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung abstelle, genüge dies nicht den rechtlichen Anforderungen an ein Versammlungsverbot. Ein solches Verbot dürfe nach den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Regelungen gerade nicht auf eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestützt werden. Auch der Verweis der Stadt auf Gegendemonstrationen rechtfertige nicht die Untersagung der angemeldeten Veranstaltung. Wegen Gefahren, die von Gegendemonstrationen ausgehen, dürfe eine Versammlung nur verboten werden, wenn ein sog. polizeilicher Notstand vorliegt, wenn also von den anderen Gruppen eine Gefahr für Leib oder Leben oder andere überragende Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit ausgehe, die nicht anders abgewendet werden könne. Eine solche Gefahrenlage kann – so das Gericht – nach den vorliegenden Unterlagen nicht mit der notwendigen Sicherheit prognostiziert werden. Bei einer vergleichbaren Versammlung der NPD in Braunschweig am 9. August 2012 sei es im Übrigen nach Mitteilung der Polizeiinspektion Braunschweig nicht zu größeren Auseinandersetzungen gekommen. Eine am heutigen Vormittag stattfindende Versammlung der NPD in Braunschweig mit etwa 400 Gegendemonstranten verlaufe nach telefonischer Auskunft der Polizeidirektion Braunschweig friedlich.

Das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes gilt auch für Versammlungen Rechtsradikaler. Eine Demonstration darf danach nicht schon deswegen unterbunden oder beschränkt werden, weil dort angreifbare oder abzulehnende politische Auffassungen vertreten werden. Solange eine Partei nicht durch das allein dafür zuständige Bundesverfassungsgericht verboten ist, kann sie sich bei Demonstrationen wie jede andere Partei auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen.

Für alle an der Entstehung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte war es zwar ein zentrales Anliegen, sich von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus abzusetzen, mit der neuen Verfassung also einen Gegenentwurf zu einem menschenverachtenden Regime zu schaffen, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat. Die Verfassung sollte aber im Vertrauen auf die Kraft der öffentlichen Auseinandersetzung auch ihren Feinden grundsätzlich Meinungsfreiheit gewähren. Das Grundgesetz vertraut auf die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, sich auch mit rechtsradikalen politischen Meinungen auseinanderzusetzen und sie im politischen Meinungskampf abzuwehren; es baut also darauf, dass die freie Auseinandersetzung mit solchen Ansichten und die öffentliche Diskussion darüber die wirksamsten Waffen sind gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.

Nähere Ausführungen zu den grundsätzlichen Rechtsfragen im Zusammenhang mit Demonstrationen Rechtsradikaler enthält eine Informationsschrift des Gerichts, die im Internet abrufbar ist (www.verwaltungsgericht-braunschweig.niedersachsen.de, Menüpunkt Verwaltungsgerichtsbarkeit).

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann die Stadt das Rechtsmittel der Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einlegen.

(Aktenzeichen 5 B 12/13)

Artikel-Informationen

erstellt am:
07.01.2013

Ansprechpartner/in:
Vizepräsident/Pressesprecher Dr. Torsten Baumgarten

Verwaltungsgericht Braunschweig
- Pressestelle -
Wilhelmstraße 55
38100 Braunschweig
Tel: 0531 488-3018 oder -3082
Fax: 05141 593733001

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